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Ähnlich wie heute zeigen sich schon während der Kaiserzeit die Ambivalenzen der modernen Industriegesellschaft. Industrielle Fertigung und Liberalisierung schaffen einerseits Wachstum und Wohlstand, andererseits aber konjunkturelle Unsicherheit und soziale Ungleichheit. Auch bleiben bestimmte Gesellschaftsgruppen von der rechtlichen Gleichstellung ausgeschlossen.
In den vier Jahrzehnten vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 vollzog sich in der deutschen Gesellschaft ein dramatischer sozialer Wandel. Zum Zeitpunkt der Reichsgründung arbeiteten noch fast die Hälfte aller Erwerbstätigen in der Landwirtschaft und nur etwas weniger als 30 Prozent im gewerblichen Sektor von Industrie und Handwerk. Zugleich lebten um 1871 noch knapp 64 Prozent der Bevölkerung in Dörfern und Landgemeinden mit weniger als 2000 Einwohnern, in Großstädten mit mehr als 100.000 Bewohnern dagegen weniger als fünf Prozent. Bis 1910 stieg der Anteil der Großstädter auf 21,3 Prozent, und nur noch 40 Prozent der Bevölkerung lebten in Dörfern. Selbst wenn man die bei Bauern und Landarbeitern recht zahlreichen Kinder einrechnet, waren 1907 gerade einmal noch 28,4 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig. Rund 42 Prozent der Bevölkerung (Erwerbstätige und Angehörige) bezogen im selben Jahr ihr Einkommen aus Industrie und Gewerbe. In vier Jahrzehnten hatte sich so der Wandel zur modernen Industriegesellschaft vollzogen. Dieser Prozess war begleitet von einem bereits länger anhaltenden, rapiden Bevölkerungsanstieg, der die Reichsbevölkerung bis 1910 von ursprünglich 41,1 auf 64,9 Millionen wachsen ließ.
Die Hochindustrialisierung
Die treibende Kraft dieses sozialen Wandels war die mit der Hochindustrialisierung verbundene wirtschaftliche Umwälzung und damit das Vordringen des modernen Industriekapitalismus. Ab den 1840er-Jahren hatte sich die industrielle Produktionsweise in Deutschland durchgesetzt. Der Eisenbahnbau, der viel Kapital erforderte und zugleich technologische Neuerungen mit sich brachte, fungierte dabei zusammen mit der Schwerindustrie (Kohleförderung, Eisen- und Stahlproduktion) als Führungssektor. In den Jahrzehnten von 1850 bis 1870 befand sich die Industrialisierung in einer beinahe ungebrochenen Aufschwungsphase. Diese reichte bis in den „Gründerboom“, der jedoch mit dem „Gründerkrach“ der Jahre ab 1873 ein abruptes Ende fand und in die schwere Wirtschaftskrise der Jahre 1873 bis 1879 mündete. Die Krise verankerte die Tatsache, dass sich die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft in zyklischen Auf- und Abschwüngen vollzieht, tief im Bewusstsein der Zeitgenossen. Zudem war der Abschwung 1879 noch nicht beendet. Unterbrochen von zwei kurzfristigen Aufschwüngen setzte sich die Stockungsphase der Wirtschaft bis 1895 fort. Über den gesamten Zeitraum von 1873 bis 1895 gesehen, gab es allerdings ein wenn auch nur mäßiges Wachstum der Wirtschaft. Deshalb ist es falsch, diese Periode als eine „Große Depression“ zu bezeichnen. Vielmehr sind drei andere Beobachtungen für diesen Zeitraum der deutschen Wirtschaftsgeschichte zentral.
Erstens befand sich der Agrarsektor seit 1876 in einer strukturellen Krise, die bis zum Weltkrieg und darüber hinaus anhielt. Ihr unmittelbarer Auslöser war der Verfall der Getreidepreise durch massenhafte Billigimporte aus den USA seit 1876. Die Einführung der Schutzzölle 1878/79 sollte dieses Problem beheben. Doch der Preisverfall für Agrarprodukte hielt weiter an, obwohl der Zolltarif in den 1880er-Jahren und dann noch einmal nach 1900 mehrfach erhöht wurde. Statt sieben Prozent wie 1883 betrug der Zollanteil des Preises für Weizen am Vorabend des Ersten Weltkrieges etwa 37 Prozent. Dennoch sank der Weizenpreis von 1873 bis zum Tiefpunkt 1894 um 48 Prozent und erholte sich auch danach nur zögerlich. Die agrarischen Produzenten – Bauern und die vor allem im Preußen östlich der Elbe ansässigen Großgrundbesitzer – versuchten diesen Preisdruck insbesondere durch den Einsatz von Maschinen aufzufangen. So konnten sie zwar insgesamt die Erträge deutlich steigern, aber die Wertschöpfung des Agrarsektors sank, und die Abwanderung von Arbeitskräften in die Städte verursachte große Probleme.
Der Preisverfall betraf – zweitens – aber nicht nur die Landwirtschaft. Bis 1895 fielen auch die Preise für gewerbliche Produktions- und Konsumgüter, was Ausdruck einer verschärften Konkurrenz auf dem Weltmarkt und steigender Produktivität war. Am stockenden Konjunkturverlauf bis 1895 zeigt sich drittens, dass sich die Dynamik des Führungssektors der ersten Welle der deutschen Industrialisierung, des Eisenbahnbaus, erschöpft hatte.
An seine Stelle traten in der Hochindustrialisierung drei andere Sektoren. Dies war zum einen der Maschinenbau, der mit der Einführung technologischer Neuerungen um 1900 zur größten Branche der Industrie aufstieg. Hinzu kamen die Großbetriebe der Chemieindustrie. Sie profitierten von einer intensiven innerbetrieblichen Forschung und Entwicklung, die im Bereich der fotografischen Filme, der Herstellung von Plastik und künstlichem Dünger innovative Produkte bereitstellte. Betriebe wie die Badische Annilin und Soda Fabrik (BASF), die Farbwerke Hoechst oder die Bayer Werke waren um 1900 die weltweit führenden Hersteller von chemischen Erzeugnissen. Die technologische Spitzenposition der deutschen Betriebe zeigte sich auch im Export, der vier Fünftel des Umsatzes der Branche ausmachte. Bei der Produktion von künstlichen Farbstoffen dominierten deutsche Betriebe mit 90 Prozent des weltweiten Absatzes den Weltmarkt.
Der dritte Führungssektor war die Elektroindustrie. Hier dominierten zwei Unternehmen, die seit 1847 bestehende Firma Siemens und die Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft (AEG). Wie bei der chemischen Industrie führten intensive betriebseigene Forschung sowie die Verwertung von Patenten des Pioniers der Elektrotechnik, Thomas Alva Edison (1847–1931), beide Betriebe an die Spitze des Weltmarktes, den sie dann unter sich aufteilten. Im Jahr 1913 erwirtschaftete die von Siemens und AEG dominierte deutsche Elektrotechnik ein Drittel des gesamten weltweiten Umsatzes in dieser Branche.
Chemie und Elektrotechnik sind gute Beispiele für einen wichtigen Trend in der deutschen Wirtschaft vor 1914, den Übergang zur großbetrieblichen Produktion. In den ersten Dekaden nach der Reichsgründung war das Heimgewerbe noch ein wichtiger Teil der gewerblichen Produktion. Vor allem in der Textilherstellung konnte das ländliche Heimgewerbe sich lange behaupten, bei dem Heuerlinge und andere Besitzer von kleinen Parzellen die Wintermonate zur Spinnerei und Weberei nutzten. Auch die handwerkliche Produktion konnte in vielen Bereichen dem Konkurrenzdruck der Industrie zunächst noch standhalten. So waren 1882 noch in rund 95 Prozent aller Betriebe weniger als sechs Personen beschäftigt. Doch im Zuge der Hochindustrialisierung nutzten Großbetriebe die Vorteile, die sich aus einer Verbreiterung der Produktpalette, der vertikalen Integration – bei der auch Zulieferer und Vertrieb in das Unternehmen eingebunden werden – und der Expansion auf Exportmärkten ergaben. Die Rechtsform der Aktiengesellschaft erlaubte es, diese Expansion zu finanzieren. 1907 arbeiteten 42,4 Prozent aller gewerblich Beschäftigten in Großbetrieben mit mehr als 50 Mitarbeitern. Gegenüber der Zählung des Jahres 1882 hatte sich deren Anteil damit fast verdoppelt. Bereits 13,7 Prozent der gewerblich Beschäftigten waren 1907 in Betrieben mit mehr als 1000 Mitarbeitern tätig. Die Firma Siemens allein hatte knapp 43.000 Beschäftigte.
Die Expansion der drei neuen Führungssektoren leistete einen erheblichen Beitrag zu der anhaltenden, nur von zwei kurzen Rezessionsphasen unterbrochenen Konjunktur, welche die deutsche Wirtschaft von 1895 bis 1913 erlebte. Ein wichtiger Indikator für die Dynamik dieses Aufschwungs ist die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des Nettoinlandsprodukts. Für den Zeitraum von 1895 bis 1913 lag sie bei 3,3 Prozent. Die gewerbliche Wirtschaft leistete dazu einen besonderen Beitrag. Er wird daran deutlich, dass sich ihr Umsatzvolumen allein von 1895 bis 1913 mehr als verdoppelte. Das anhaltende Wachstum führte insgesamt zu einer Steigerung des Pro-Kopf-Einkommens, auch wenn dieses höchst ungleich verteilt blieb.
Allerdings reichte die gesteigerte Binnennachfrage bei weitem nicht aus, um die Produkte der deutschen Industriewirtschaft aufzunehmen. Das war nur durch eine massive Steigerung des Exports möglich, die sich bereits in der Deflationsphase seit 1879 anbahnte, aber erst in der Hochkonjunktur der Jahre ab 1895 voll zum Durchbruch kam. Von 1895 bis 1913 stieg der Wert der deutschen Exporte noch stärker als die gewerbliche Produktion, nämlich um 180 Prozent. 1913 entfielen etwa 28 Prozent aller weltweiten Exporte chemischer Produkte auf die deutsche Industrie. Der Exportorientierung der deutschen Industrie entsprach eine Ideologie, die in der Vergrößerung des Exportanteils das Patentrezept zur Vermeidung von Überproduktionskrisen sah. Eine andere Reaktion auf die konjunkturellen Schwankungen war die Bildung von Kartellen, mit denen Großunternehmen durch Absprachen über Preise und Produkte den Markt kontrollierten. Seit der Depression der 1870er-Jahre setzten sie sich vor allem in der Schwerindustrie durch.
Neben die Kartellierung, also die formellen Absprachen zwischen Unternehmen, traten Formen des Interessenabgleichs zwischen Staat und Großindustrie, die auch als Korporatismus bezeichnet werden. Sie stützten sich auf den Zusammenschluss der Industrie in Interessenverbänden und auf personelle Verflechtungen und Absprachen zwischen Verbandsvertretern und Ministrialbürokratie. Hinzu kam, dass sich der Staat durch wachsende Ausgaben im Bereich der Bildungs- und Sozialpolitik selbst zu einem Faktor der Wirtschaft entwickelte. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges lag der Anteil der Staatsausgaben (Reich, Bundesstaaten, Kommunen) am Nettosozialprodukt bei etwa 15 Prozent. Seit der Jahrhundertwende entfernte sich die institutionelle Struktur der kapitalistischen Wirtschaft somit vom klassischen liberalen Modell der unregulierten Konkurrenz. Der sozialdemokratische Theoretiker Rudolf Hilferding (1877–1941) beschrieb in seinem Buch „Das Finanzkapital“ von 1910 diese Tendenz zur Vermachtung der Wirtschaft durch Kartelle und korporative Absprachen als einen „organisierten Kapitalismus“.
Konturen der Klassengesellschaft
Die seit 1895 von einer langen Konjunkturphase unterstützte Dynamik der Hochindustrialisierung trieb den Wandel zu einer Klassengesellschaft voran. Ständische und damit feudale Formen der sozialen Ungleichheit – also rechtliche Privilegien sowie die Abschließung sozialer Gruppen durch gemeinsame Ehrvorstellungen – wurden dabei durch solche ersetzt, die auf der jeweiligen wirtschaftlichen Marktposition beruhten. Neben dem weniger dynamischen Markt für Grundbesitz – der durch Vererbung und Kauf die Sozialhierarchie der ländlichen Gesellschaft steuerte – waren Märkte für Aktien, Produkte und vor allem der Arbeitsmarkt entscheidende Faktoren sozialer Ungleichheit. Auf dem Arbeitsmarkt mussten nicht nur manuell tätige Arbeiter in Stadt und Land ihre Qualifikationen anbieten, sondern auch Angestellte und Angehörige bürgerlicher Berufsgruppen wie Anwälte, Ärzte oder Ingenieure.
An der Spitze der sozialen Hierarchie der deutschen Gesellschaft stand eine Gruppe, die sich aus dem Adel sowie den Wirtschafts- und Bildungsbürgern zusammensetzte. Mit ihren Familien machte diese Oberklasse um 1900 insgesamt etwa fünf Prozent der Bevölkerung aus. Der Adel war dabei eine kleine und in sich äußerst heterogene Gruppe. Sie umfasste die Familien der 22 Fürsten des 1871 geschaffenen Reiches sowie jene des Hochadels und der vor allem südwestdeutschen Standesherren, die seit 1803 ihre reichsunmittelbare Stellung verloren hatten. Zu ihr zählten aber auch die etwa 20.000 Familien des niederen grundbesitzenden Adels in Preußen, die sogenannten Junker. Angesichts der seit 1876 anhaltenden Agrarkrise kämpften viele von ihnen gegen wachsende Verschuldung und den Zwangsverkauf ihres Gutes an bürgerliche Besitzer. Im preußischen Landtag verteidigten sie hartnäckig ihre Privilegien. Die 1872 erlassene preußische Kreisordnung hob zwar die gutsherrliche Polizeigewalt auf, beließ aber die Gutsbesitzer als Vorsteher in den – als Gemeinde selbstständigen – Gutsbezirken. Damit blieben die Gutsbesitzer im ländlichen Preußen östlich der Elbe bis 1918 in einer rechtlich privilegierten, ständischen Herrschaftsposition. Zudem verteidigten und erweiterten die adeligen Gutsbesitzer die Institution des Fideikommisses, der Güter für unveräußerlich erklärte und damit dem Besitzwechsel entzog.
Zum Wirtschaftsbürgertum zählte neben den Eigentümern von Banken, Industrie- und Handelsunternehmen die steigende Zahl der Manager, die etwa im Bankensektor den Typus des patriarchalischen Einzelunternehmers mehr und mehr ablösten. Zeitgenössische Beobachter im Kaiserreich kritisierten, dass bürgerliche Unternehmer und Manager Normen und Lebensstil des Adels imitiert hätten, was zu einer „Feudalisierung“ des Bürgertums und damit zu einem Mangel an selbstbewusster Vertretung bürgerlicher Interessen geführt habe.
Doch dies war ein polemisches Zerrbild, das sich empirisch nicht halten lässt. So wurden etwa im Kaiserreich weit weniger bürgerliche Millionäre nobilitiert als zur selben Zeit in Großbritannien. Einige wohlhabende, bürgerliche Unternehmer – wie etwa der Hamburger Bankier Max Warburg (1867–1946) oder der Hamburger Reeder Albert Ballin (1857–1918) – lehnten eine ihnen angebotene Erhebung in den Adelsstand voller Stolz ab. Auch das Heiratsverhalten der Unternehmer lässt eine Annäherung an den Adel nicht erkennen, sie heirateten überwiegend Frauen aus bürgerlichen Familien. Auffällig ist allerdings die Bereitschaft vieler Unternehmer und Manager, sich als staatsnahe sowie Regierung und Staatsbürokratie folgsame Bürger auszuweisen und damit den Primat des monarchischen Staates anzuerkennen. Dieser belohnte solche Loyalität durch die Verleihung von Auszeichnungen wie etwa den Titel „Kommerzienrat“, den viele Besitzer und Manager von Spitzenunternehmen führten.
Eine Besonderheit der deutschen Sozialgeschichte war das Bildungsbürgertum. Die Zeitgenossen benutzten dafür den Begriff der „gebildeten Stände“. Es umfasste weniger als ein Prozent der deutschen Bevölkerung. Dennoch übte es einen nachhaltigen und zugleich ambivalenten Einfluss auf die Normen und Wertvorstellungen nicht nur des Bürgertums aus. Im Kern gehörten dem Bildungsbürgertum Berufsgruppen mit einer durch Studium nachgewiesenen akademischen Qualifikation an. Dies waren zum einen die sogenannten freien Berufe wie Ingenieure, Architekten, aber auch die Ärzte und Rechtsanwälte. Bei den letzten beiden Gruppen war die Ausbildung und Berufspraxis weitaus stärker staatlich reglementiert als etwa in Frankreich oder Großbritannien. Auf der anderen Seite standen die akademisch gebildeten höheren Beamten, Professoren, Gymnasiallehrer sowie die dem Beamtenstatus vergleichbaren evangelischen Pfarrer. Die überwölbende Klammer dieser ökonomisch sehr verschiedenartigen Gruppen bildete die um 1800 entstandene neuhumanistische Bildungsidee. Ihr galt Bildung nicht als Erwerb formaler Qualifikationen, sondern als die Arbeit an der inneren Vervollkommnung und ästhetisch-geistigen Formierung des Individuums. Ausgehend von Kunst und Sprache des antiken Griechenlands widmete sich der Lehrplan des humanistischen Gymnasiums der Aneignung dieses Ideals. Nicht nur durch die zentrale Position der evangelischen Pfarrer als Vermittler dieser Ideen war das Bildungsbürgertum eine im Kern protestantische Elite.
Sozial gesehen war das Bildungsbürgertum offener als das gehobene Wirtschaftsbürgertum. Bei wachsenden Studentenzahlen konnten auch Söhne des Kleinbürgertums und der unteren Beamtenschaft bildungsbürgerliche Berufe ergreifen. Auch die Bildungsidee selbst hatte einen anti-elitären Grundzug, da sie den „Geistesadel“ (Friedrich Schiller) an die Stelle des Adels der Geburt setzte. Doch am Ende des 19. Jahrhunderts war deutlich sichtbar, dass sich der offene und liberale Impuls der neuhumanistischen Bildungsidee erschöpft hatte. In ihrem Rahmen fiel es schwer, den raschen sozialen und ökonomischen Wandel im Kaiserreich angemessen zu deuten. Viele Bildungsbürger sahen sich als Verlierer der Modernisierung und in der Defensive gegen den Aufstieg der sozialistischen Arbeiterbewegung. Neben manchen Reformströmungen machte sich deshalb ein Kulturpessismus breit, dessen nationalistische und oft antisemitische Ausprägungen seit 1900 zu einer Entliberalisierung des Bildungsbürgertums beitrugen.
Die Durchsetzung einer auf Marktchancen basierenden Klassengesellschaft wird nirgendwo deutlicher als im Vordringen der Lohnarbeiter. Noch 1875 hatten sie erst 56,7 Prozent aller Erwerbstätigen gestellt. Bis 1907 war ihr Anteil an allen Erwerbstätigen auf 76,3 Prozent angestiegen. Entscheidend dafür war, dass sich die Zahl der in der Industrie beschäftigten Arbeiter von 1882 bis 1907 nahezu verdoppelt hatte. Erst damit waren die Industriearbeiter noch vor den Landarbeitern zur größten Gruppe innerhalb der Arbeiterschaft angewachsen. Im Einklang mit der Entwicklung der Wirtschaft hin zu großbetrieblichen Organisationsformen war eine stetig wachsende Zahl von ihnen in Großbetrieben mit mehr als 200 Mitarbeitern beschäftigt. Dennoch war die Arbeiterklasse in sich vielfach differenziert und auch gespalten.
Erhebliche Unterschiede gab es zunächst zwischen Branchen, etwa zwischen dem Bergbau, in dem männliche Beschäftigte dominierten und ständische Traditionen die Kultur der Bergleute prägten, und der Textilindustrie, die hauptsächlich von Frauen getragen wurde. Gravierend war auch der Unterschied zwischen ungelernten und gelernten Arbeitern, bei denen bestimmte handwerklich geprägte Berufe wie die der Drucker und Setzer einen eigenen Berufsstolz wahrten. Die wohl wichtigste Trennlinie verlief zwischen Stadt und Land. Das Millionenheer der landwirtschaftlichen Arbeiter – nach der hier sehr unvollkommenen Statistik mindestens 3,17 Millionen Männer im Jahr 1907 – teilte sich wiederum in verschiedene Gruppen. Viele von ihnen waren über Deputatlöhne (Gewährung von Wohnung und Lebensmitteln) oder den Besitz von Kleinstparzellen in quasifeudale Arbeitsverhältnisse eingezwängt. Allen Landarbeitern gemeinsam war, dass die Herrschaftsgewalt der Grundbesitzer und Großbauern es der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung praktisch unmöglich machte, sie zu organisieren.
Die Reallöhne der Industriearbeiter verdoppelten sich von 1871 bis 1913 beinahe. Dieser Anstieg führte allerdings nur bei der Gruppe der besser qualifizierten Facharbeiter zu einer wirklich spürbaren Anhebung des Lebensstandards. Für die Masse der gewerblichen Arbeiter blieb die Erfahrung der durch geringe Chancen bestimmten proletarischen Lebensweise oder „Proletarität“ maßgeblich. Als übergreifende Klassenlage schuf sie auch die Bereitschaft zur kollektiven Interessenvertretung in Gewerkschaften und Parteien und hier vor allem in der Arbeiterpartei SPD
Die Erfahrung der „Proletarität“ speiste sich aus vielen Quellen: Am Arbeitsplatz war es die Entrechtung durch das paternalistische Regiment der Fabrikherren; hinzu kam die Enge des proletarischen Wohnens in den vom Bürgertum getrennten Wohnvierteln; im Lebenszyklus drohten elementare Risiken durch Krankheit, Arbeitsunfälle und Altersverarmung. Die Erfahrung staatlicher Repression im Militärdienst, bei der Niederschlagung von Streiks und durch die polizeiliche Überwachung der Arbeiterbewegung komplettierte die Wahrnehmung einer tiefen Spaltung der Gesellschaft in die entgegengesetzten Lager des Bürgertums und der Arbeiterschaft.
Deutsche Juden zwischen Partizipation und Ausgrenzung
Die Herausbildung einer durch scharfe soziale Gegensätze geprägten Klassengesellschaft war ein Aspekt der sozialen Ungleichheit im Kaiserreich. Über Unterschiede in Einkommen, Besitz und Bildung hinaus ist es nötig, auch nach der Einbeziehung religiöser und ethnischer Minderheiten und nach dem Umgang mit kultureller Differenz zu fragen. Der wichtigste Lackmustest für die Beurteilung, wie offen die deutsche Gesellschaft war, ist die Integration der jüdischen Minderheit. Im Jahr 1871 lebten 512.000 Juden auf dem Gebiet des Deutschen Reiches, das waren 1,25 Prozent der Bevölkerung. Bis 1910 stieg ihre Zahl zwar auf 615.000. Doch das stärkere Wachstum der Gesamtbevölkerung und Faktoren wie Taufen (ca. 23.000 bis 1918) sowie die überwiegend christliche Erziehung der Kinder in Mischehen ließ ihren Anteil auf 0,95 Prozent sinken.
Nur eine kleine Minderheit der in Deutschland ansässigen Juden waren ausländische Staatsbürger, 1900 etwa nicht mehr als 41100. Allerdings gab es seit den 1880er-Jahren eine erhebliche Zuwanderung von Juden aus Russland, die Deutschland als Transitland nutzten. Vor 1914 schifften sich allein in Hamburg jährlich 100.000 osteuropäische Juden zur Auswanderung in die USA ein. Antisemitische Gruppen und Verbände nutzten ihre vorübergehende Anwesenheit zu einer lautstarken Agitation gegen die von den „Ostjuden“ angeblich ausgehende „Gefahr“.
Mit der Gründung des Reiches 1871 war der langwierige Prozess der Emanzipation der Juden in Deutschland abgeschlossen. Deutsche Juden waren nunmehr als deutsche Staatsbürger rechtlich in allen Belangen gleichgestellt. Dies ging auf ein Gesetz des Norddeutschen Bundes vom Juli 1869 zurück, das ab 1871 im Reich gültig war. Die formale rechtliche Gleichstellung bedeutete jedoch nicht, dass Juden damit gleichen Zugang zu allen öffentlichen Ämtern hatten. So blieb die Ernennung zum Offizier oder Reserveoffizier abhängig von der Zustimmung der Offiziere eines Regiments. Antijüdische Vorurteile und ein exklusives Standesdenken, die im Offizierskorps weit verbreitet waren, sorgten dafür, dass es in der preußischen Armee bis 1918 keine jüdischen Offiziere gab. Seit 1885 fanden Juden dort auch keine Aufnahme als Reserveoffizier mehr. Dies betraf im Übrigen auch getaufte Juden. Ähnliches galt für den höheren Staatsdienst in den Ministerien und das diplomatische Korps. Etwas besser war die Situation in der Justiz, obwohl den Juden auch hier leitende Positionen verschlossen blieben und ein hoher Anpassungsdruck die Taufe zur Vorbedingung einer reibungslosen Karriere machte. Dennoch waren in Preußen rund vier Prozent der Richter bekennende Juden. Vergleichbares galt für die Hochschulen. Etwa acht Prozent der Studenten waren jüdisch, und 1910 waren nicht weniger als 12 Prozent der – unbesoldeten, auf einen Ruf als Professor wartenden – Privatdozenten Juden. In beiden Gruppen waren Juden also deutlich überrepräsentiert. Ordinarien, also ordentliche Professoren, wurden von den Fakultäten berufen. In dieser Gruppe lag der Anteil der Juden 1910 bei nur 2,5 Prozent, und die meisten von ihnen lehrten in Medizin und Naturwissenschaften. Für getaufte Juden war die Chance des Zugangs zu einer akademischen Karriere höher. Aber auch ihnen gegenüber hegten die Professoren in den Geisteswissenschaften erhebliche Vorbehalte.
Neben den begrenzten Zugangs- und Aufstiegschancen im Staatsdienst war die Berufs- und Sozialstruktur der jüdischen Minderheit im Kaiserreich immer noch durch die frühere rechtliche Sonderstellung vor der Emanzipation bestimmt, die sie vom Handwerk und dem Erwerb landwirtschaftlichen Besitzes ausgeschlossen hatte. Zugleich nutzten die Juden nach 1871 die Chancen, die ihnen die Dynamik der kapitalistischen Wirtschaft eröffnete, und waren überproportional häufig im Handel, im Bankwesen und in der Industrie tätig.
Es vollzog sich ein teilweise bemerkenswerter sozialer Aufstieg in bürgerliche Berufsgruppen. Dies ist ein wichtiger Grund dafür, warum die Geschichte der jüdischen Minderheit bis 1918 als eine „Erfolgsgeschichte“ (Reinhard Rürup) beschrieben worden ist. Allerdings gilt es, diese tiefgreifende Verbürgerlichung der deutschen Juden differenziert zu betrachten. 1907 zählten zwar etwa 60 Prozent aller Juden dem Beruf nach zum gehobenen Bürgertum. Aber eine genaue Analyse des Einkommens der jüdischen Bewohner von Breslau – die mit rund 20.000 Juden im Jahr 1910 die drittgrößte jüdische Gemeinde im Reich stellten – zeigt, dass vor 1914 weniger als die Hälfte von ihnen ein bürgerliches Einkommen aufwies.
Ein wichtiges Indiz für die gesellschaftliche Akzeptanz der Juden ist ihre Teilhabe am bürgerlichen Vereinswesen. So öffneten sich etwa die Freimaurerlogen für jüdische Mitglieder. In Zentren jüdischen Lebens wie Breslau, Berlin oder Frankfurt am Main waren Juden nach der Reichsgründung prominent in den Vereinen des bürgerlich-liberalen Lagers vertreten. In diesen Städten entwickelte sich eine „pluralistische Urbanität“ (Till van Rahden), die Juden und Nichtjuden gleichermaßen umfasste. Bürgerliche Juden leisteten hier einen aktiven Beitrag etwa zur Definition der kommunalen Armenpflege, die Fürsorge nicht als reine Mildtätigkeit, sondern als „soziales Recht“ verstand. Bürgerlich-großstädtische Juden pflegten ihre jüdische Identität also situativ, sie pflegten nicht nur ihre religiöse Gemeinschaft, sondern beteiligten sich aktiv an bürgerlich-liberalen Gesellschaftsgruppen, die sie kulturell veränderten.
Es waren vor allem die staatsnahen Gruppen des Bürgertums wie höhere Beamte und Offiziere sowie Adelige, die sich dem geselligen Umgang mit Juden verweigerten. Die Bilanz der jüdischen Gleichstellung im Kaiserreich bleibt also ambivalent. Ungeachtet der rechtlichen Emanzipation blieb ihnen eine Karriere in vielen staatlichen Berufen verschlossen oder nur um den Preis der Taufe möglich. Im liberalen Milieu einiger Großstädte bestimmten Juden aktiv bürgerliche Werte und kulturelle Praktiken mit. Zugleich entwickelte sich jedoch ein anti-emanzipatorisches Lager, in dem die soziale Ausgrenzung bekennender wie getaufter Juden ein wichtiger Teil der kollektiven Identität war.
Dynamik des Geschlechterkonflikts
Widersprüche und Grenzen der Emanzipation kennzeichnen auch die Geschlechterbeziehungen und damit ein anderes Feld, in dem die Gesellschaft des Kaiserreichs eine dynamische Entwicklung durchlief. Dabei war die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen zunächst tief in die soziale, rechtliche und politische Ordnung eingelassen. Das Muster der patriarchalischen Kernfamilie war weit über das Bürgertum hinaus akzeptiert. Es schrieb unterschiedliche Lebensentwürfe für Männer und Frauen vor, die Männern das Berufsleben und die öffentliche Sphäre vorbehielten, während für Frauen das private Umfeld der Familie und die Kindererziehung vorgesehen waren. Frauenarbeit war in diesem Rollenmodell nur auf unterbürgerliche Schichten beschränkt und auch dort nur als vorübergehende Tätigkeit vor der Verheiratung. Noch 1907 gingen rund 70 Prozent der unverheirateten Frauen einer Erwerbsarbeit nach, jedoch nicht mehr als 26 Prozent der Ehefrauen. Insgesamt waren im Kaiserreich konstant etwa 35 Prozent aller Frauen erwerbstätig. Die Statistik weist zwar von 1882 bis 1907 eine Steigerung aus. Diese resultierte jedoch nur aus der genaueren Erfassung von jungen Frauen, die im bäuerlichen Betrieb der Eltern mithalfen. So war noch 1907 fast jede zweite erwerbstätige Frau in der Landwirtschaft tätig. Die Erwerbschancen aller Frauen vergrößerten sich durch den seit dem späten 19. Jahrhundert anhaltenden Geburtenrückgang. Bei diesem gingen bürgerliche Frauen vor allem aus der Schicht der Angestellten durch eine bewusste Familienplanung voran, während unter den Arbeitern der Schwerindustrie (Bergbau, Eisen-/Stahlerzeugung) um die vier Kinder pro Ehe bis 1914 die Norm blieben.
Die soziale Hierarchie zwischen Männern und Frauen ergab sich nicht nur aus ihrer unterschiedlichen Einbindung in die ökonomische Sphäre. Sie war auch das Ergebnis rechtlicher Festlegungen. Nach langer Verzögerung wurde 1896 vom Reichstag das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) verabschiedet. Es trat zum 1. Januar 1900 in Kraft. Das BGB schuf ein einheitliches Privatrecht und regelte damit auch die Rechtsverhältnisse in der Ehe. Dabei gab es dem Mann das alleinige Recht der „Entscheidung in allen das gemeinschaftliche eheliche Leben betreffenden Angelegenheiten“. Der Ehefrau gestattete das BGB nur, „innerhalb ihres häuslichen Wirkungskreises die Geschäfte des Mannes für ihn zu besorgen und ihn zu vertreten“ (§§ 1354, 1357).
Auch von der politischen Sphäre blieben Frauen weitgehend ausgeschlossen. Erst die Weimarer Republik brachte ihnen im Gefolge der Revolution vom November 1918 das Wahlrecht für den Reichstag und für die Parlamente von Kommunen und Einzelstaaten. Bis zum Ende des Kaiserreichs vertrat von den Parteien allein die SPD seit 1891 ohne jeden Vorbehalt die Einführung des Frauenwahlrechts. Ihr gesellten sich nur einige Gruppen am progressiven Rand des Linksliberalismus hinzu. Die politische Teilhabe von Frauen wurde auch auf anderen Wegen eingeschränkt. Erst das 1908 verabschiedete Reichsvereinsgesetz erlaubte ihnen die Mitgliedschaft in politischen Vereinen und damit auch in den Parteien. Vor allem proletarische Frauen machten in großer Zahl von dieser Chance Gebrauch und traten der SPD und den Freien Gewerkschaften bei. Im Jahr 1914 waren immerhin 175.000 Frauen Mitglied der SPD, was einem Anteil von 16 Prozent entsprach.
Dies ist ein wichtiges Indiz dafür, dass sich die Verhältnisse zwischen Männern und Frauen seit der Jahrhundertwende dynamisch veränderten: Seitens der Frauen wurde die hierarchische Geschlechterordnung zunehmend in Frage gestellt und immer mehr Frauen engagierten sich in der bürgerlichen Frauenbewegung. Deren Anfänge gehen auf das Jahr 1865 zurück, als die sozialkritische Schriftstellerin Louise Otto-Peters (1819–1895) den Allgemeinen Deutschen Frauenverein gründete. Dessen Mitgliederzahl stagnierte allerdings zunächst.
Erst als sich 1894 verschiedene Berufsvereine und lokale Frauenvereine im Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) als Dachverband zusammenschlossen, erzielte die Frauenbewegung eine breitere Resonanz in der Öffentlichkeit. Allein von 1900 bis 1908 wuchs die Mitgliederzahl des BDF von 70.000 auf 200.000. Die proletarische, SPD-nahe Frauenbewegung organisierte sich separat. Nur eine Minderheit der bürgerlichen Frauenbewegung vertrat radikale politische Ziele und setzte das Frauenstimmrecht an die Spitze ihrer Forderungen. Die breite Mehrheit, und hier nicht zuletzt die protestantischen Frauenvereine, die dem BDF 1908 beitraten, zielte vor allem auf bessere Bildungsmöglichkeiten für Frauen. Ein anderes Anliegen war die praktische und konzeptionelle Einbindung von Frauen in die Sozialarbeit und Sozialpolitik, und damit auch deren Mitgestaltung. Als „Kulturaufgabe“ der Frau – so der zeitgenössische Begriff – sahen die Protagonisten dieser Strömung das Bemühen, die Kälte und Entfremdung der hochdifferenzierten, von Männern dominierten Berufswelt zu mildern und zu ergänzen. Dieses Ziel wurde im Konzept der „geistigen Mütterlichkeit“ gebündelt, die nicht auf die Familie beschränkt war, sondern eine fundamentale Reform der bürgerlichen Kultur und Gesellschaft durch weibliche Werte forderte.
Gemessen am Auftreten und an der Militanz der britischen Suffragetten (vom englischen Wort für Wahlrecht: suffrage), deren Demonstrationen seit 1903 die Öffentlichkeit im Vereinigten Königreich aufschreckten, waren dies gemäßigte Ziele. Doch bei einem solchen Vergleich sollte nicht übersehen werden, dass sich gerade im Bereich der Bildungschancen in Deutschland seit 1900 deutliche Veränderungen abzeichneten. Gymnasium und Abitur waren im Kaiserreich den Jungen vorbehalten, während den Mädchen zunächst nur der Abschluss in einer „höheren Töchterschule“ möglich war. Die Frauenbewegung, in der viele Lehrerinnen aktiv waren, hatte sich erst für die Verbesserung der höheren Töchterschulen, dann aber auch für die Zulassung von Mädchen zum Abitur eingesetzt. Seit 1893 entstanden so zunächst private Mädchengymnasien, ab 1906 kam als staatlicher Schultyp das Lyzeum hinzu, das Mädchen zum Abitur führte. Komplettiert wurde diese spürbare Erweiterung der Bildungschancen und -zugänge durch die Zulassung von Frauen zum Studium, zuerst 1900 in Baden und dann 1908 auch in Preußen.
Der steigende Zulauf zur bürgerlichen Frauenbewegung war ebenso wie die erweiterten weiblichen Bildungschancen ein Indiz für einen seit 1900 wachsenden Geschlechterkonflikt. Viele Männer im konservativ-nationalen Lager nahmen ihn als eine grundlegende Erschütterung der männlichen Dominanz wahr. Sie reagierten mit der Ideologie des Antifeminismus, der die angeblich „natürliche“ Hierarchie zwischen den Geschlechtern wiederherstellen und Frauen ihren biologisch bestimmten Platz in der Gesellschaft zuweisen wollte. In der politisch aufgewühlten Atmosphäre des Jahres 1912, die nach der Reichstagswahl im Januar durch die Gewinne der SPD und neuerliche Forderungen nach dem Frauenstimmrecht geprägt war, fand diese antifeministische Geisteshaltung ihren organisatorischen Ausdruck in der Gründung des „Deutschen Bundes zur Bekämpfung der Frauenemanzipation“. Im Zeichen nationaler Integration wandte er sich gegen die Frauenbewegung. Er trug somit zur weiteren Formierung eines anti-emanzipatorischen Lagers bei, das sich in ähnlicher Weise anlässlich der spannungsvollen Integration der Juden in bürgerliche Kreise gebildet hatte. Der Antifeminismus war Ausdruck einer Mobilisierung gegen die Moderne und zugleich „Indikator einer Gesellschaft in Bewegung“, so die Historikerin Ute Planert. Während sich die Strukturen der Klassengesellschaft bis 1914 weiter verfestigten, zeigte sich ab 1900 zugleich ein intensives Ringen um vermehrte Partizipation, Gleichstellung und soziale Reform.